„Anomymität ist ein Schutzschild gegen die Tyrannei der Mehrheit“, entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1995. Nachdem bereits vor einigen Monaten in Österreich die Debatte über eine Klarnamenpflicht im Internet entbrannte, im Jänner sich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Schäuble (CDU) für eine solche aussprach, ist das Thema nun auch in Südtirol angekommen.

Die Südtiroler Volkspartei (SVP) fordert in einem Beschlußantrag im Landtag: Eine Medienförderung soll nur noch erhalten, wer eine Klarnamenpflicht bei Leserkommentaren einführt. Zudem soll in Zusammenarbeit mit dem Landesbeirat für das Kommunikationswesen eine einheitliche Netiquette ausgearbeitet werden, die für alle Nachrichtenseiten und Onlinemagazine gelten soll. Zu guter Letzt will die SVP eine „Ombudsstelle für alle beitragsbeziehenden Medien einrichten, welche Klagen und Beanstandungen entgegennimmt und diese bearbeitet“. Freilich soll auch dieses Gremium vom Kommunikationsbeirat besetzt werden.

Abgesehen davon, daß dieser Antrag eines der grundsätzlichen Probleme von Subventionen zeigt, nämlich daß verloren ist, wer sein Geschäftsmodell allein auf öffentliche Gelder aufbaut, weil der Geldgeber, in diesem Fall das Land, seine Meinung ändern und den Empfänger praktisch erpressen kann, ist jede Form einer Klarnamenpflicht aus freiheitlicher, liberaler Sicht abzulehnen.

Eingriff in die Meinungsfreiheit

Die SVP-Abgeordneten begründen ihre Forderung unter anderem damit, es würden sich quer durch alle Foren „Haßpostings und hämische Kommentare“ ziehen. „Menschen werden attackiert, an den Pranger gestellt, schonungslos kritisiert und diskriminiert.“ Soweit mir bekannt, werden Leserkommentare von den Redaktionen gesichtet und freigeschaltet. Wer unterschiedliche Ausrichtungen und Möglichkeiten in den Leserforen nivelliert, der beschneidet auf lange Sicht auch die Meinungsfreiheit und -vielfalt. Und ganz nebenbei: Auch Haß kann eine Meinung sein, die von der gesetzlichen Meinungsfreiheit gedeckt ist. Und allzu oft wird legitime Kritik gleich als Haß abgestempelt, um die Kritik als unzulässig darzustellen.

Doch es gibt neben einer zentralisierten und vom Land definierten Netiquette noch weitere Probleme. Nehmen wir das Beispiel Michael Anti (Pseudonym von Jing Zhao). Der chinesische Journalist veröffentlichte unter dem Namen Michael Anti in der New York Times. Auf Facebook wurde er jedoch gesperrt, weil er sich dort nicht mit seinem bürgerlichen Namen registriert hatte.

Was ich damit sagen will: Könnte es nicht auch in Südtirol einmal so sein, daß ein, sagen wir mal, Angestellter eines Betriebs oder Mitarbeiter einer Behörde unter einem wohlwollendem Artikel über eben jene Firma oder Landesstelle einem möglichst breitem Publikum darlegen möchte, daß doch nicht alles so gut läuft in dem Betrieb? Und ist es nicht nachvollziehbar, daß derjenige dann nicht mit Klarnamen auftreten möchte, da er ansonsten wirtschaftliche und soziale Konsequenzen zu spüren bekommen könnte? Das Ziel, vor Diskriminierung zu schützen, würde damit ins Gegenteil verkehrt: Ein Einzelner würde diskriminiert, weil er seine Meinung äußert. Das Gegenteil von gut ist leider allzu oft gut gemeint.

Ausweis in der Kneipe vorzeigen und Gespräche veröffentlichen?

Der SVP-Logik nach müßte es auch eine Klarnamenpflicht für Journalisten und Publizisten geben. Damit würde kritischen Autoren de facto ein Maulkorb verpaßt. Gerade in einem kleinen Land wie Südtirol, wo fast jeder jeden kennt und es vielleicht einen höheren sozialen Druck der Mehrheit gibt als in der anonymen Großstadt, kann es besonders schwierig sein, bestimmte Meinungen zu äußern. Übrigens: Wer öfter auf Facebook unterwegs ist, wird merken, daß viele „Haßkommentatoren“ unter ihrem echten Namen schreiben.

Der Technikjournalist Torsten Kleinz hatte vor ein paar Jahren ein besonders schönes Bild zur Frage der Anonymität im Netz gefunden. Er beschrieb ein Gasthaus, das nur betreten darf, wer dem Wirt seinen Ausweis zeigt und welche Folgen das für die Gesellschaft hat. Für unser Beispiel mit der Klarnamenpflicht ergänzen könnte man noch: Der Gast muß nicht nur seinen Ausweis zeigen, sondern es wird auch jedes Gespräch aufgezeichnet und per Lautsprecher ins ganze Land übertragen. Würden Sie in so eine Kneipe gehen wollen?

In dem eingangs erwähnten Urteil über Anonymität heißt es weiter: „Sie veranschaulicht den Sinn der Bill of Rights und das erste Amendment im Speziellen: unpopuläre Personen vor Vergeltung zu schützen, ihre Ideen vor Unterdrückung zu schützen und vor den Handlungen einer intoleranten Gesellschaft. Das Recht, anonym zu bleiben, darf nur dann verletzt werden, wenn es betrügerisches Verhalten schützt. Aber die politische Rede hat von ihrer Natur her manchmal unangenehme Konsequenzen, und im Allgemeinen räumt unsere Gesellschaft dem Wert der freien Rede größeres Gewicht als der Gefahr ihres Mißbrauchs ein.“

Vorbild sein statt verbieten

Wer weiß, in welche Richtung sich das Meinungsklima in Südtirol noch entwickeln wird. Wer weiß, wer in zehn Jahren regieren wird und wer weiß, wie breit der Meinungskorridor der von dieser Regierung mitentwickelten Netiquette für Nachrichtenseiten und Onlinemagazine sein wird.

Könnten wir uns ob dieser Ungewißheit nicht darauf einigen, daß wir den Redaktionen so viel Eigenverantwortung zugestehen, selbst zu entscheiden, welcher Leserbrief den sittlichen Umgangsformen gereicht und welcher nicht?

Und die Politiker, die unbedingt etwas gegen „Haßkommentare“ tun wollen: Sie können mit einem ehrlich gemeinten, freundlichen Auftreten und einem ebensolchen Umgang mit politischen Kontrahenten Vorbild sein statt zu ver- oder gebieten.