Bekanntlich weiß der Mensch erst etwas richtig zu schätzen, wenn er es nicht mehr hat. In Berlin gibt es wenig — um nicht zu sagen: gar kein — Tiroler Brauchtum. Umso schöner, ab und an in der Heimat zu sein und es zu pflegen. Am Sonntag feierten die Toblacher Kirchweih- und Erntedankfest.

Seit eh und je feiert die Gemeinde dies mit einer Prozession durchs Dorf und dem „Kirtamichl“-Brauch: Auf einem stattlichen Baum aus den umliegenden Wäldern wird an der Spitze der sogenannte „Michl“, eine Puppe aus Stroh mit Bier und Niggilan in den Händen, angebracht. Dieser muß über Nacht bewacht werden. Sollte er gestohlen werden, müssen die Aufpasser der Räuberbande eine Marende ausgeben.

In seiner Predigt erzählte der Priester das Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter:

Jesus sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und vor keinem Menschen sich scheute. Es war aber eine Witwe in jener Stadt; und sie kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegenüber meinem Widersacher! Und eine Zeit lang wollte er nicht; danach aber sprach er bei sich selbst: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und vor keinem Menschen mich scheue, so will ich doch, weil diese Witwe mir Mühe macht, ihr Recht verschaffen, damit sie nicht am Ende komme und mir ins Gesicht fahre.

Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Gott aber, sollte er das Recht seiner Auserwählten nicht ausführen, die Tag und Nacht zu ihm schreien, und sollte er es bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch, daß er ihr Recht ohne Verzug ausführen wird. Doch wird wohl der Sohn des Menschen, wenn er kommt, den Glauben finden auf der Erde? — Die Bibel Lukas 18, 2-8

Gottesdienst in der Pfarrkirche von Toblach
Der Geistliche erinnerte damit an die Wirkmächtigkeit des Gebets. Der ungerechte Richter dient als Gegenbild Gottes. Die Witwe steht für die Gläubigen, die um Gottes Beistand bitten. Während der Richter zögert und letztlich das Recht ausspricht, um sich selbst zu schützen, ist Gott anders. Wenn Menschen an ihn glauben und ihm vertrauen, wird er ihnen helfen.

Die Bänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. An den hinteren Eingängen mußten dutzende Kirchgänger stehend am Gottesdienst teilnehmen. Für die Kinder war das mitunter sehr anstrengend. Die Messe dauerte mehr als eine Stunde. Doch eben die Jüngsten lobte der Pfarrer am meisten. Er erzählte von einer einheimischen Familie, die bei Oma zum Essen eingeladen worden war.

Beten

Früher war es üblich, vor und nach den Mahlzeiten zu beten. Ihr Sohn betete kaum. Das wußte die Großmutter, weshalb sie erst gar nicht damit begann. Die vierjährige Tochter, die kleinste am Tisch, fragte plötzlich: „Aber Oma, warum betest Du nicht? Das machst Du doch sonst auch immer?“ Und so sprachen alle gemeinsam das Gebet, bevor sie ihre Gaumen verwöhnten.

An der anschließenden Prozession nahmen noch mehr Menschen teil als am Gottesdienst. Für die Kinder aus der Stadt war das ein besonderes Erlebnis. Männer, die meterhohe Fahnen gen Himmel reckten, Burschen, die die Erntekrone mehrere hundert Meter durchs Dorf schleppten. Frauen, die in Tracht Statuen trugen. Vorne weg marschierten die Feuerwehr, die Schützen und die Musikkapelle.

Erntedankfest in Toblach

Brauchtum schützt vor Radikalisierung

Hinter dieser Brauchtumspflege mag heute auch in Tirol viel Folklore stecken. Trotzdem ist sie wichtig, sehr wichtig. Sie lehrt Demut. Und sie bewahrt gleichsam vor Extremismus. In einigen ehemaligen Ostblockstaaten, vor allem aber in Rußland, setzte nach dem kulturellen Bruch durch den Kommunismus Ende der 90er Jahre eine Radikalisierung ein. Orthodoxe Christen und Moslems wurden urplötzlich fundamentalistisch(er).

In den östlichen Bundesländern trat das Gegenteil ein. Dort brach die kulturelle Wurzel ab und an deren Stelle traten weitestgehend Atheismus oder Ersatzreligionen. „Wir haben’s hier nicht so sehr mit Religionen“, sagte mir heuer eine Frau in Erfurt. Unser Ressortleiter für Politik schickte mich in die thüringische Stadt, um eine Reportage über einen geplanten Moscheebau zu schreiben. Was die Frau mir berichtete, hörte ich auch von den meisten anderen Erfurtern.

Brauchtumspflege ist wichtig. Sie ist in Zeiten des Unglaubens ein reaktionärer Akt, der, entgegen der Meinung von Progressiven, vor Fundamentalismus und Radikalisierung bewahrt.